Der Gutmensch

Die Sprache wandelt sich. Stetig finden neue Kreationen im Sprachgebrauch Einlass, schlagen da Wurzeln, bis sie schliesslich durch den Duden geadelt und ins Wörterbuch aufgenommen werden.

Meist freue ich mich über kreative Wortbildungen. Manchmal ärgere ich mich darüber. Um einen solchen Begriff geht es hier:

Gutmenschen

Das Wort setzt sich aus gut und Mensch zusammen. Der Duden meint dazu:

«meist abwertend;

jemand, der sich (in einer als unkritisch oder übertrieben empfundenen Weise) empathisch und tolerant verhält, sich für Political Correctness u. Ä. einsetzt»

Sorry Leute – ich habe Fragen!

Einst sprachen wir von guten Menschen. Es war nicht abwertend gemeint. Man wusste, dass gute Menschen liebenswerte Zeitgenossen sind, angenehm im Umgang, tolerant, solidarisch, gerecht. Sehr oft setzen sie sich für eine gute Sache ein. Sie können teilen, freuen sich am Glück anderer, helfen Probleme lösen, haben ein grosses Herz und vor allem: Narzissmus ist ihnen fremd. Einverstanden, es braucht nicht alle diese Eigenschaften, um ein guter Mensch zu sein. Denn Fehler, Ecken, Kanten und Schwächen dürfen auch die guten Menschen haben. 

Aber: Wann bitte schön hat ein guter Mensch nach gängiger Meinung aufgehört, ein guter Mensch zu sein? Oder anders gefragt: Seit wann gehört es zum guten Ton, gute Menschen abzuwerten?

Viele von uns fühlen sich durch Gutmenschen getriggert. Sie provozieren unschöne Reaktionen; sie werden verhöhnt, verspottet und ausgelacht. Sie gelten als realitätsferne Träumer, die einfach nicht kapieren wollen, wie die Gesellschaft heute nun einmal tickt. 

Man ist ätzender Gutmensch, wenn man das Klima schützen will. Auch jene, denen die Flüchtlingsströme nicht egal sind und händeringend nach Lösungen suchen, gelten als Gutmenschen. Wer sich für die Schwachen einsetzt, Mindestlöhne verlangt, darauf beharrt, dass Kinderarbeit ausgemerzt wird, sich nicht darum foutiert, wenn in politischen Entscheiden sozial am Rande stehende Gesellschaftsschichten das Nachsehen haben – sie alle werden als Gutmenschen abgekanzelt. Die keine Ahnung haben. Ihre Ideen und Forderungen würden Wirtschaft, Fortschritt und Wohlstand gefährden. Und wehe, diese Gutmenschen wagen es, trotz Solidarität mit weniger vom Glück Bedachten das Leben zu geniessen: Die Ablehnung kennt keine Grenzen mehr. 

Das eine tun, das andere nicht lassen? Geht gar nicht. Solidarität? Bah.

Mit Verlaub: Ohne gute Menschen funktioniert keine Gesellschaft. Ich umgebe mich nicht nur gerne mit Gutmenschen, sondern versuche selbst auch ein Gutmensch zu sein. Im Rahmen meiner Möglichkeiten. Weil: Auch Gutmenschen sind nicht perfekt. Müssen sie nicht, im Fall. Auch sie sind zuweilen inkonsequent, wenn sie beispielsweise in die Ferien fliegen, obwohl sie für den Klimaschutz sind. Oder ein T-Shirt «made in Bangladesh» kaufen, wo Näherinnen oftmals unter unterirdisch schlechten Arbeitsbedingungen rackern. Oder genussvoll ein Cüpli trinken, obwohl sie für soziale Gerechtigkeit einstehen. Gutmensch zu sein und sich für Schwächere einzusetzen, bedeutet nicht de facto, das eigene Leben nicht mehr zu geniessen. 

Fühlen sich die «Normalen», um nicht zu sagen die wirklich «Guten», tatsächlich von den Gutmenschen bedroht? Könnte es sein, dass sie mit den aktuellen Problemen auf der Welt schlicht überfordert sind? Sind wir alle. Die weltweit ungelösten Probleme sind eine Nummer zu gross für die meisten von uns. Deshalb könnte man den «Normalen» durchaus etwas Nachsicht entgegenbringen. Wenn sie doch nur nicht so arrogant über jene herzögen, die versuchen, Gutes zu tun oder sich (so oft wie möglich) richtig zu verhalten. 

«Ich oder wir in der Schweiz können die Welt auch nicht retten» scheint als Argument zu genügen, nichts zu ändern. Seinen Lebensstil weiterzuführen. Gedankenlos zu konsumieren. Ungebremst aus dem Vollen zu schöpfen. Und dabei keinen Gedanken an die Schwachen und Wehrlosen oder die zuneige gehenden Ressourcen zu verschwenden. 

Wäre es nicht eine unfassbare Bankrotterklärung an die Zukunft, wenn wir alle nichts täten, nur weil wir nicht perfekt sein können?  

Die Welt ist komplex. Es scheint, viele Mitmenschen mögen sich nicht mit den globalen Herausforderungen und den zugrunde liegenden Ursachen und Zusammenhängen auseinandersetzen. Und schon gar nicht möchten sie zugucken, wie Gutmenschen ihnen andere Werte vorleben. Lieber weiter gedankenlos konsumieren, als dort einen Beitrag zu leisten, wo es einem leichtfiele. Denn sonst – «huch!» – würde man ja ebenfalls zu einem Gutmenschen. Es ist so viel einfacher, bei den engagierten Gutmenschen nach Fehlern zu suchen und diese genüsslich breitzutreten. Danach fühlt man sich gleich überlegener. Und rechtfertigt seinen gedankenlosen Lebenswandel. 

Ich plädiere hiermit fürs Gutmenschentum im positiven Sinne. Noch einmal: Wir müssen nicht perfekt sein. Wir dürfen uns Schnitzer erlauben. Doch wenn jeder, nicht nur die Gutmenschen, nur da ansetzen würde, wo es ihm leichtfiele, etwas Gutes zu tun – es wäre im Endeffekt eine riesige Masse. Und die würde ins Gewicht fallen; die Solidarität bliebe bestehen.

Auch wenn sich die Sprache entwickeln soll, kann und darf – es gibt Grenzen. Ich weigere mich, ins «Bashing» von guten Menschen einzustimmen, respektive den Begriff Gutmensch zu verwenden. In diesem Sinne: Hoch leben die Gutmenschen; hoch leben die guten Menschen.